Gegen die Abschaffung des Widerspruchsrechts hatte der VDGN immer wieder protestiert. So machte VDGN-Präsident Peter Ohm im Jahr 2013 in einem Brief an die damaligen Fraktionsvorsitzenden der beiden Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Grüne deutlich: In Streitfällen setzen viele Kommunen darauf, dass der Bürger eine Klageerhebung aufgrund des Kostenrisikos scheut oder diese ihm aus Kostengründen unmöglich ist. Grundstückseigentümer aus der niedersächsischen Stadt Hambühren wandten sich im gleichen Jahr mit einem viel beachteten Appell an die alle Landtagsfraktionen und forderten die Wiedereinführung des Widerspruchsverfahrens.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Auch in Niedersachsen musste man jetzt erkennen, dass der Verzicht auf das Widerspruchsverfahren in eine Sackgasse geführt hat. „Konsequenzen daraus, so Innenminister Boris Pistorius (SPD), habe man eindrucksvoll am Beispiel von Abfallbescheiden in der Region Hannover beobachten können, als Tausende von Bürgerinnen und Bürgern Klage beim Verwaltungsgericht einreichten. Mit einem Widerspruchsverfahren hätten die meisten der Klagen vermieden werden können. Und weiter: „Dem betroffenen Zweckverband wären im Ergebnis hohe Kosten erspart geblieben. Und vermutlich wären weitaus mehr Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Recht gekommen, nämlich auch jene, denen die Hürde der Klage zu hoch war.“ Deshalb sei eine Korrektur überfällig. Soweit die Einsicht des Innenministers.
Vollzogen wurde diese Korrektur jedoch sehr halbherzig mit dem Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes und anderer Gesetze, beschlossen am 2. März 2017. Danach wurde mit Artikel 4 im Niedersächsischen Justizgesetz (§ 80) mit Wirkung vom 1. Juli 2017 unter anderem neu aufgenommen: Verwaltungsakte können auf der Grundlage von Rechtsvorschriften zu kommunalen Aufgaben mit der Anordnung versehen werden, dass vor der Erhebung einer Anfechtungsklage die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind .
Klingt sehr verklausuliert und heißt im Klartext: Allein die Behörden bestimmen im jeweiligen Einzelfall ob ein Widerspruch oder eine unmittelbare Klage zulässig sind. Die betroffenen Bürger müssen sich dem fügen. Bezeichnet wird dies als Behördenoptionsmodell, gepriesen von Innenminister Pistorius als „innovatives bundesweit einmaliges Regelungsmodell“.
Bundesweit einmalig ist es tatsächlich, wie ein Vergleich zeigt. Denn in allen anderen Bundesländern steht den Bürgern offen, ob sie sich für einen Widerspruch entscheiden, sind sie dabei nicht vom Wohlwollen der Behörde abhängig. Nordrhein-Westfalen, das 2007 als einziges Bundesland dem negativen Beispiel Niedersachsens gefolgt war, hat 2014 das Widerspruchsverfahren unter anderem im Bereich der Kommunalabgaben ohne Wenn und Aber wieder eingeführt (siehe dazu: Gesetz zur Änderung des Landesbeamtengesetzes und des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen undzur Anpassung weiterer Rechtsvorschriften). Ein Sonderfall ist Bayern. Hier sind es - im Gegensatz zu Niedersachsen - die Bürger, die entscheiden können, ob sie Widerspruch einlegen oder gleich Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben.
Niedersachsen hinkt also in dieser Hinsicht weit hinter den anderen Bundesländern her, auch wenn Innenminister Pistorius das Behördenoptionsmodell als Erfolg verkauft. Vor dem Landtag erklärte er: „Schließlich können die Behörden ihrerseits am besten beurteilen, ob sie etwa bei rechtlicher Unsicherheit in Massenverfahren besser das Widerspruchsverfahren eröffnen. … Dieses Optionsmodell wahrt die Interessen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger …“
Genau das darf nach den Erfahrungen des VSSD und seines Dachverbandes VDGN angezweifelt werden. Bei der Wiedereinführung des Widerspruchsrechts ist Niedersachsen verzagt auf halber Strecke stehengeblieben. Rechtsschutz für die Bürger sieht anders aus.